Wie soll man über etwas schreiben, das man selbst kaum begreifen kann? Etwas, das eigentlich niemand lesen möchte, das sogar ein Tabu in der Gesellschaft ist? Nicht nur darüber schreiben, sondern auch noch öffentlich – ist das denn wirklich angemessen? Mag sein, dass es völlig unangemessen ist. Bloß halte ich all das nicht anders aus. 

Wie sehr hat sich mein Vater gefreut, als ich ihm die Auszeichnung überreicht habe. Fast schien es, als hätte er alle Energien für diesen Moment aufgespart. Hatte er die Tage davor hauptsächlich geschlafen, war er da auf einmal hellwach. Ich konnte ihm nicht nur die Medaille und die Urkunde übergeben, sondern ihm auch einige Fotos aus Washington zeigen. 

Er war sehr berührt von dem Foto, das ich von seinen Co-Preisträgern vor der Einstein-Statue als Gruß an ihn aufgenommen hatte. Er war beeindruckt vom wunderschönen Gebäude der Academy of Sciences, musste über einen schlechten Scherz von mir lachen, als ich ihm mein Selfie mit dem Weißen Haus im Hintergrund zeigte. 

Er scherzte mit uns und so schwach er da schon war: an der Medaille hielt er fest – ich wollte sie nicht im Krankenhaus lassen, sie für seinen Geschmack aber doch zu schnell wieder einpacken. Völlig zurecht genoss er es, sie in Händen halten zu können, wo er sie schon nicht selbst in Empfang nehmen konnte. 

Er freute sich über die vielen Grüße und Genesungswünsche, die man mir als Botin auf den Weg mitgegeben hatte. Kurzum: alle meine Sorgen und Ängste, ob ich ihm all das wohl noch überbringen würde können, lösten sich in Luft auf.

Seither ist viel passiert, auch wenn noch nicht viel Zeit vergangen ist. Unter anderem wurden wir von der tollen Würdigung in der Regionalzeitung Volltreffer überrascht, freuten uns über Besuche von FreundInnen und Verwandten und erhielten berührende Botschaften von ehemaligen Arbeitskollegen und Schulfreunden – und wir sind uns sicher, dass er all das auch wahrgenommen hat. 

Immer wieder hat er uns überrascht und noch viel mehr die Ärzte und Pflegerinnen. Denn immer wieder packte ihn die Sorge, dass er bald sterben könnte, immer wieder hielten es die Ärzte und Pflegerinnen für wahrscheinlich. Und doch trotzte er all diesen Befürchtungen immer wieder, so dass ihm einmal mehr viele Menschen Respekt zollten. 

Doch so viele Energien dieser Mann, mein Vater, auch aufbringen konnte und kann – nun scheinen sie ihm wirklich auszugehen. Nun hat die bisher intensivste Phase für uns begonnen. Diese ist weiterhin geprägt von Bangen und Hoffen, von den besten Wünschen für ihn und einer immer größer werdender Erschöpfung. 

Diese Phase ist vor allem deshalb so intensiv, weil man auf so vielen Ebenen gezwungen ist, abzuwägen und sich selbst zu hinterfragen: wünscht man ihm deshalb so sehr, dass er einschlafen kann, weil man ihm aus Empathie wünscht, dass er nicht mehr so viel kämpfen muss? Oder geht es um den eigenen Egoismus, darum, dass man Klarheit haben möchte, um selbst zur Ruhe kommen zu können? 

Wie ist das mit dem Kämpfen: bedeutet es für ihn nur Leid, weil er den Tod so sehr fürchtet? Oder ist es nicht schön, dass er selbst in dieser Situation offenbar immer noch zumindest einen Grund findet, um weiterhin am Leben zu bleiben? 

Ist es nicht schön, dass es ihm anscheinend Grund genug ist, dass er uns weiterhin sieht? Oder ist auch das nur egoistisches Wunschdenken? Sollen wir ihn weiterhin so viel wie möglich besuchen oder hindert ihn genau das daran, loszulassen? 

Würde ich nur auf mein Hirn hören, wäre ich schon lange verrückt geworden. Gerade jetzt versuche ich, in mein Herz zu hören, zu spüren, was ich tun möchte, und versuchen zu spüren, was er möchte. Das ist alles andere als leicht, denn leider kann er sich kaum noch artikulieren. Oft genug frage ich mich, ob das, was ich gerade getan habe, gut war, zu viel Grenzüberschreitung, oder vielleicht sogar zu wenig Nähe? Doch aucb was das betrifft, habe ich gelernt, auf mein Gefühl zu vertrauen – und zugleich ihm, da er natürlich weiterhin in der Lage ist, seinen Unmut im Falle des Falles zu äußern, und zwar sehr deutlich. 

Und doch bricht es mir immer wieder aufs Neue das Herz, ihn so zu sehen. Diesen tollen Mann, der mir so viel mitgegeben und ermöglicht hat. Von dem ich mich so oft unverstanden gefühlt und mich entsprechend an ihm gerieben habe. Mit dem ich gerade was Emotionen betrifft, so viel zu kämpfen hatte, der aber gerade in letzter Zeit in der Lage war, so viele Fassaden einzureißen, dass ich es bisweilen kaum glauben konnte. Den ich so sehr liebe, dass ich weder die Vorstellung aushalte, ihn gehen lassen zu müssen, noch den Gedanken, ihn weiterhin so kämpfen und ringen zu sehen. 

Was mich sehr tröstet ist die Tatsache, dass er keine Schmerzen hat und zudem einen immer friedlicheren Eindruck macht. Ach, Papa, es tut mir so leid, dass Du durch all das gehen musst! Dass Du viel zu früh gehen musst. Dass Du weiterhin so viel Gutes bewirken könntest, wenn Du Deine Forschung weiter betreiben könntest. Jetzt bleibt mir nur, Dir eine geruhsame Nacht zu wünschen. Was morgen kommt, wird sich zeigen. Ich liebe Dich jedenfalls sehr und bin Dir trotz aller Differenzen sehr dankbar für alles. ❤